Samstag, 3. Januar 2015

Arbeit und Struktur oder Glaube: Wege, mit einem Glioblastom umzugehen

Diagnose Glioblastom: Wie gehe ich damit um?


Dem Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wurde 2010 ein Gehirntumor diagnostiziert. Ein Glioblastom, der häufigste bösartige Gehirntumor. Oder der bösartiste der häufigen Tumore. Eine der niederschmetternsten Diagnosen, die ein Mensch überhaupt bekommen kann. Wie der inzwischen verstorbene Autor damit umging, beschrieb er ausführlich in seinem bewegenden Blog "Arbeit und Struktur".
Kerzen in Altötting
Herrndorf zeichnet sich dort selbst als rationalen, atheistischen Erkrankten, einen Patienten, der seine Hoffnung auf Statistiken, Forschungsergebnisse und die Möglichkeiten der Schulmedizin setzt. Gebete, Glaube sind ihm ein Graus, ebenso wie übertriebene Empathie seiner Freunde. Er beschreibt, wie er den Kontakt zu einer Freundin abbricht, weil er ihre Trauer nicht aushalten kann. Konsequent stürzt er sich in "Arbeit und Struktur" und schreibt oder vollendet als Todgeweihter drei großartige Romane. Nicht einmal seinen Tod will er dem Schicksal überlassen. Akribisch plant er, in seinem Blog für jedermann nachlesbar, seinen Freitod. Mehrmals betont er, dass ihn das Wissen um die Pistole und die Möglichkeit, über seinen Tod selbst bestimmen zu können, paradoxerweise Kraft zum Weiterleben gibt.
Herrndorf hat die tödliche Erkrankung 3 Jahre lang besiegen können.
Knapp ein Jahr nach seinem Tod bin ich selbst Angehöriger eines am selben Tumor erkrankten Menschen geworden. Vieles aus Arbeit und Struktur hilft mir, Krankheit und Erkrankten zu verstehen.
In diesem Fall geht der Erkrankte, nennen wir ihn D., aber so ganz anders mit seinem Schicksal um, als Herrndorf. D. ist, was mich wieder und wieder erstaunt, sogar das krasse Gegenteil.
D. ist ein gläubiger Mensch. Er hat eine Familie, zwei Kinder, hat acht Wochen vor der Diagnose kirchlich geheiratet. Er hat auf der Hochzeit eine bewegende Rede gehalten, wie viele Schicksalsschläge seine kleine Familie bereits durchstehen musste. Da ahnte niemand, dass der schlimmste erst bevorstand. Niemand hätte mehr Grund, mit dem Schicksal, mit Gott zu hadern. Er hadert wohl auch. Aber sein Glaube scheint stärker. Er sucht die Gottesdienste im Klinikum Großhadern auf, er pilgert nach Altötting, um in der Gnadenkapelle zu beten, er dankt Gott laut bei jeder Gelegenheit für seine Familie und die Hilfe, die er erhält. Er lädt das ganze Dorf ein, mit ihm gemeinsam während einer Andacht zu beten. Die Kapelle der Dorfkirche ist zum Bersten gefüllt. Der Pfarrer ist erstaunt über die vielen Menschen, die an einem gewöhnlichen Mittwochabend in die Kirche strömen. Sie beten für die Kranken der Gemeinde, vor allem aber für D. Und als während der Andacht die Tür aufgeht und D. selbst, auf Krücken und seine Frau gestützt, eintritt, ist das Erstaunen noch größer. Gemeinsam betet er für sich, aber auch für die anderen Kranken, für die Helfer, die Pflegenden. Herrndorf hatte es nicht ertragen, wenn wegen ihm geweint wurde. In dieser Kapelle weinen die Betenden und die Kranken gemeinsam.
Und dennoch wird nach der Andacht viel gelacht. Es geht im Glauben um Hoffnung, Zuversicht und Liebe. Die einzigen Heilmittel gegen die Angst. Und die Angst, die Depression ist es meistens, so der Pfarrer, die den Tod herbeiführen, nicht der Tumor.

Das wusste letztendlich auch Wolfgang Herrndorf. Was er in der letzten Sekunde vor seinem Tod gefühlt hat, ob selbst er, wie er es immer ausgeschlossen hatte, an etwas göttliches glaubte, konnte er nicht mehr aufschreiben.


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