Freitag, 19. September 2014

Die Rätsel in Wolfgang Herrndorfs Geniestreich Sand

Wolfgang Herrndorfs Geniestreich "Sand"


Ein unterschätztes, ein magisches Buch: Sand von
Wolfgang Herrndorf
Die Wolfgang Herrndorf Festwochen sind eröffnet! Demnächst erscheint "Bilder deiner großen Liebe", die Geschichte jener Isa, die man aus Herrndorfs Bestseller Tschick bereits kennt. Eine gute Gelegenheit, sich nochmal mit dem Werk des vor einem Jahr verstorbenen Schriftstellers zu befassen. 
Aus gegebenem Anlass musste ich persönlich leider seinen Glioblastom-Blog Arbeit und Struktur noch einmal zur Hand nehmen und habe mit diesen Hintergrundinformationen auch Sand noch einmal gelesen. 
Lange habe ich gezögert, den Roman, der seit einem Jahr in meinem Schrank stand, wirklich zu lesen. Das Buch gilt als verspult, kaum verständlich, zwar wundervoll geschrieben, aber  wirr und ohne Handlung.
Bullshit! Allen Kritikern sei ein herzliches "Ihr Idioten!" entgegen geschmettert. 
Sand ist laut eigenen Angaben Herrndorfs Trottelroman und man benötigt glücklicherweise etwas Hirnschmalz, um das Buch zu entschlüsseln. Und tatsächlich, die Handlung erschließt sich einem nicht nach dem ersten Lesen. Wer hin und her blättert, sich Verweise macht, findet letztendlich dennoch eine klar, lückenlos durcherzählte Handlung vor. Die vielen Rätsel werden sich dem aufmerksamen Leser nach und nach erschließen, genau das macht den genialen Reiz dieses Buches aus.
Und wer Herrndorfs Schicksal kennt, dem wird die Erkenntnis, wer Carl ist und warum er alles vergessen hat, schlicht den Stecker ziehen.
Sand ist ein ungewöhnlicher Geniestreich, und ein Writers Book. Also ein Buch, das allen, die selbst schreiben, oder verstehen wollen, wie man gut schreibt, wärmstens zu empfehlen ist. 
Bevor ich mit wüstem Spoilern beginne, noch ein paar Hinweise:
Sand ist mit sämtlichen literarischen Wassern gewaschen. Ein Feuerwerk inspiriert von den großen Autoren, die Herrndorf gelesen und verinnerlicht hat. Als Thriller ist Sand vielleicht verspult. Als literarischer Schmöker, seltsames Setting hin oder her, ein Quell ewig sprudelnden Genusses.
Ein Beispiel: Herrndorf beschreibt in Arbeit und Struktur Thomas Manns Chauchat Effekt im Zauberberg: Hunderte Seiten lang sehnt man sich mit Hans Castorp nach Madame Chauchat und auf einmal taucht ihr Name nicht mehr auf und die Sehnsucht setzt sich nur noch im Kopf des Lesers fort.
(Ab jetzt wird gespoilert, was das Zeug hält!)
Herrndorf lässt Carl, mit dem sich der Leser am meisten identifiziert, gleich mehrere Kapitel wieder und wieder dem sicheren Tod entkommen. Man leidet und leidet und hofft und bangt. Und kaum ist Carl in Sicherheit, macht Herrndorf ihn mit einem Nebensatz zur Leiche. Peng. Selten haben es Buchstaben im Kopf des Lesers derart knallen lassen. 
Das ist die Kunst. Herrndorf liebte die Russen (Literaten) und unzuverlässige Erzähler. Dem Erzähler ist auch in Sand nicht zu trauen. Ständig widerspricht er sich und auf einmal taucht auch noch ein Ich-Erzähler auf, der in Herrndorfs Alter ist und sich am Schluss genötigt sieht, auch den langsameren Lesern noch einige Zusammenhängen so zu erklären, bis auch der letzte Trottel die Handlung kapiert hat. (Nicht so mancher Rezensent). Man stellt sich vor, wie viel biestigen Spaß Herrndorf gehabt hat, das Hirn seiner Leser zu manipulieren. Jenes Denkorgan, von dem er selbst terrorisiert wurde. 
Die Rätsel lösen sich auf, aber bis ins Dankeswort hinein streut Herrndorf neue. Unter zig Namen, die man teils aus Arbeit und Struktur kennt, taucht auch Heather Gliese auf. So heißt im Buch Helens Tochter, mit der der Ich-Erzähler brieflich kommuniziert. Herrndorf spielt mit dem verwischen  von Fiktion und Realität. 
Spätestens hier merkt man aber, dass der Name Gliese etwas bedeutet. Helen wohnt in Appartement  381d  und Astronomen unter und werden nun aufjubeln, dass Gliese 381d einer der erdähnlichen Planeten ist, der unserem Sonnensystem am nächsten ist. Zufall?
Sand wird als Nihilistenroman bezeichnet. Gliese 381d steht aber für Hoffnung, dass es irgendwo da draußen noch eine zweite Erde gibt, auf der es besser ist. Spekulation.
Endgültig perplex war ich allerdings, als mir folgendes passierte: Bekanntlich war Herrndorf jemand, der viel über Google und Wikipedia recherchierte.
Tippt man also „Gliese“ in Google ein, tauchen gleich nach dem ersten Buchstaben Vorschläge von Google auf. Tippt man die ersten drei Buchstaben ein, meint man allerdings, seinen Augen nicht zu trauen: Als erster Vorschlag taucht auf: "Glioblastom"
Spielt einem nun das Gehirn schon wieder einen Streich oder hat da jemand Spaß daran, die Leute noch Jahre nach seinem Tod zu narren?

Wer ist Carl?


Und zu guter Letzt noch die Lösung des Rätsels, wer Carl ist und warum er zu Carl wurde. 
Carl ist Cetrois, das ahnt er selbst bald. Doch wer ist Cetrois?
Dem aufmerksamen Leser entgeht nicht, dass der nette Polizist Polidorio, den wir am Anfang des Romans kennenlernen, mehrere gefälschte Ausweise hat und sich, wie sich herausstellt, als Tugendwächter im Bordell gerne als Cetrois ausgibt. Polidorio ist Cetrois. Ist Carl. 
Und wieso die Amnesie?
Herrndorf hat einmal erwähnt, dass man mit der Diagnose Glioblastom, der Königsklasse unter den Tumoren, sich so einiges leisten darf. 
Zum Beispiel darf man seiner Romanfigur starke Kopfschmerzen verpassen und eine unerklärliche Amnesie bekommen lassen. 
Peng, beim zweiten Mal Lesen also der nächste Hammer. Dabei weist Herrndorf schon auf den ersten Seiten so deutlich auf die Kopfschmerzen hin, dass man sich über jeden Kritiker, der die Logik des Buches überlesen hat, nur wundern kann. 
Unbegreiflich auch, wie der Kopf, der sich diesen wüsten Thriller ausgedacht hat, die Übersicht bewahren konnte und tatsächlich bis zum Schluss alle Handlungsfäden so in der Hand hielt, dass Sand kein unzusammenhängendes Mosaik wurde, sondern der Leser, wie Carl, bis zum Schluss nach dessen Identität forschte.

Isa erschien am 26. September. 2014. Die Frage ist auch, ob es ein pessimistischer Roman wie Sand oder ein „Die Welt ist schön, trotz allem“ Buch wie Tschick wird…


Weitere Texte zu Wolfgang Herrndorf:


Die Bücher in Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur Hier klicken
Bilder Deiner großen Liebe Hier klicken
Arbeit und Struktur Hier klicken

1 Kommentar:

  1. Danke für die Hinweise, die mir aus dem Buch entgangen sind! (Nicht alle;) Hab zuerst auch Arbeit und Struktur gelesen und mir die Querverbindungen gewünscht. Jemand, der sich ausweglos den Kopf zerbricht. Immer wieder verwunderlich als menschliche Regung find ich, dass man (in A & S) bis zuletzt hofft, auch wenn der Tod des Autors bereits allerseits bekannt ist. Für Sand find ich nihiliistisch ne gute Bezeichnung. Die Chance auf Carls Überleben war hart erkämpft...

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